Bei Kurzarbeit erhalten Angestellte in der Regel 60 Prozent ihres Nettolohnes. Anders ist das bei den Beschäftigten in Werkstätten für Menschen mit Behinderung, denn sie haben nur einen arbeitnehmerähnlichen Mitarbeiterstatus.
(Bayern) Zu Beginn der Corona-Krise, Mitte März, bekam jeder Mitarbeiter der Noris Inklusion in Nürnberg einen Brief. Darin hießt es, dass Beschäftigte in der Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) als Risikogruppe gelten und damit nicht mehr zur Arbeit kommen dürften. Damit wurde eine Allgemeinverfügung aus dem bayerischen Gesundheitsministerium umgesetzt. Das hatte und hat noch immer gravierende Folgen für die Beschäftigten einer WfbM im Freistaat.
Ein Fall, stellvertretend für viele
Florian Hartig ist Spitzensportler. Mit seinen 24 Jahren ist er mittlerweile die Nummer 21 auf der Weltrangliste der Tischtennisspieler bei den Para-Olympics. Florian ist behindert und er arbeitet bei der Noris Inklusion im Bereich „Rent-A-Huhn“. Dort ist er verantwortlich für 300 Tiere. Er versorgt sie, kümmert sich um sie, sammelt die Eier ein, verpackt sie, kontrolliert die Bestände. Florian arbeitet von 7.30 Uhr bis 14 Uhr während der Woche. Darüber hinaus hat er Schichten am Wochenende. Zwar bietet die Werkstatt für Menschen mit Behinderung einen geschützten Rahmen, trotz allem hat auch Florian seine 38-Stunden-Woche zu leisten.
Der Unterschied: Beschäftigte in einer Behindertenwerkstatt haben einen arbeitnehmerähnlichen Status. Das heißt, sie sind nicht arbeitslosenversichert und erhalten demnach auch kein Kurzarbeitergeld.
Nach einer Allgemeinverfügung des bayerischen Gesundheitsministeriums durften Menschen mit Behinderung ab März wochenlang nicht mehr zur Arbeit kommen, da sie als gesundheitlich vorbelastete Risikogruppe eingestuft wurden. Ihr Lohn wurde von der Noris Inklusion trotzdem weiterbezahlt, da er existenzsichernd für viele Mitarbeiter ist und die Werkstatt die Beschäftigten mit einer eigentlich nötigen Lohnkürzung nicht noch zusätzlich verunsichern wollten.
Behinderte erhalten Grundlohn und Steigerungslohn
Für ihre tägliche Arbeit erhalten Mitarbeiter in einer bayerischen Behindertenwerkstätte einen Grundlohn und einen Steigerungslohn. Ihr monatliches Arbeitsentgelt beträgt nach einer Berechnung des Sozialministeriums aus dem Jahr 2017 durchschnittlich 250 Euro im Monat bei einer Vollzeitbeschäftigung.
Hinzu kommt entweder eine Erwerbsminderungsrente oder zum Beispiel Sozialhilfe. Im Schnitt haben danach Mitarbeiter in Behindertenwerkstätten rund 1.100 Euro netto im Monat zur Verfügung.
„Das Geld der Werkstatt ist für mich wichtig, dass ich normal leben kann. Essen, Trinken, Klamotten und dann vielleicht auch mal für Freizeit.“ Florian Hartig, Mitarbeiter der Noris Inklusion
Freistaat lehnte Erstattung der Lohnkosten ab
Die Noris Inklusion hat, wie viele andere Werkstätten in Bayern, ihre Beschäftigten trotz des Betretungsverbots mehrere Wochen weiterbezahlt, weil die Mitarbeiter das Geld dringend benötigen, aber auch im Vertrauen darauf, dass der Freistaat durch die erlassene Allgemeinverfügung eine Erstattung der Lohnkosten übernehmen würde. Für die Nürnberger Werkstatt waren das für die 530 Mitarbeiter Entgeltzahlungen in Höhe von 110.000 Euro.
Behindertenwerkstatt hat Klage eingereicht
Doch der Bezirk Mittelfranken und auch die Regierung in München winkten ab. Jetzt hat die Noris Inklusion stellvertretend für viele andere Behindertenwerkstätten Klage gegen den Freistaat beim Landgericht München eingereicht.
„Es verstößt unserer Meinung nach gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, wenn die Gruppe der Menschen mit Behinderung allein unter Infektionsschutzgesichtspunkten vom Arbeitsleben ausgeschlossen, ein Beschäftigungsverbot letztendlich ausgesprochen wird, aber keine Ersatzzahlung geleistet wird“, so Christian Schadinger, Bezirkssprecher der Mittelfränkischen Werkstätten und Mitglied im Landesvorstand der bayerischen Behindertenwerkstätten.
Keine Reaktion des Gesundheitsministeriums
Das Gesundheitsministerium, zuständig für die erlassene Allgemeinverfügung, antwortet nicht auf eine Anfrage des BR. Das Sozialministerium verweist auf die vom Bund zur Verfügung gestellten Hilfen von zehn Millionen Euro für bayerische Behindertenwerkstätten. Das Geld stammt aus einem Topf, der für die Hilfe von schwerbehinderten Menschen vorgesehen ist. Ihnen wurde das Geld gekürzt, um es für die Lohnzahlungen von Beschäftigten in Behindertenwerkstätten einzusetzen. In dieser Woche können in Bayern die ersten Anträge gestellt werden.
„Insgesamt glaube ich, dass das Geld, das da zur Verfügung gestellt worden ist, nicht reichen wird, um diese Krise zu bewältigen.“ Holger Kiesel, Behindertenbeauftragter der Staatsregierung
Derzeit viel weniger Einnahmen für die Beschäftigten
Im Freistaat sind laut Sozialministerium rund 36.700 Personen in Werkstätten für Menschen mit Behinderung beschäftigt. Die zehn Millionen aus dem Hilfsfonds des Bundes bedeuten umgerechnet rund 272 Euro für jeden Mitarbeiter einer Behindertenwerkstatt. Weitere Hilfen sind vorerst nicht vorgesehen, wie die bayerische Sozialministerin Trautner gegenüber dem BR erklärt.
„Jetzt sehen wir mal weiter, wie das Infektionsgeschehen sich weiterentwickelt. Im Moment dürfen die Beschäftigten ja zurückkehren. Sie arbeiten in den Werkstätten. Insofern stellt sich das Problem nicht, wie es sich in der Zeit gestellt hat, als das Betretungsverbot da war.“ Carolina Trautner, bayerische Sozialministerin
Doch angesichts der steigenden Zahlen an Neuinfektionen stelle sich sehr wohl diese Frage, meint Christian Schadinger Geschäftsführer von Noris Inklusion. Schon jetzt dürfen in der Noris Inklusion die Beschäftigten aufgrund einer nötigen Rotation zur Einhaltung der Abstandsregelung nur maximal drei von vier Wochen arbeiten. Das bedeutet weniger Produktion und auch weniger Einnahmen.
Sozialministerium sieht Überbrückungsmöglichkeiten
Die Arbeit in Behindertenwerkstätten darf keine Konkurrenz zu normalen Arbeitsplätzen darstellen. Vor allem große Betriebe wie Automobilzulieferer oder Firmen im Metallbereich vergeben Aufträge an Behindertenwerkstätten. Doch die Branche schwächelt und für die Einrichtungen wird es schwieriger, neue Auftraggeber zu finden.
Das Sozialministerium sieht die Gesamtsituation jedoch positiv. „Die Werkstätten sind sehr aufgeschlossen und sehr findig. Wenn sie sehen, dass es in dem einen Bereich nicht mehr so gut funktioniert, generieren sie Aufträge aus anderen Bereichen“, meint Ministerin Carolina Trautner: „Natürlich mag das an der einen oder anderen Stelle schon mal eine Schwierigkeit sein, um das zu überbrücken, aber im Großen und Ganzen glaube ich, dass die Werkstätten da gut unterwegs sind und die entsprechende Unterstützung der Firmen erfahren.“
Werkstätten leiden unter wirtschaftlicher Situation
Christian Schadinger, der auch Mitglied im Präsidium der Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten ist, sieht die Situation weniger optimistisch. „Die Werkstätten in Deutschland sind innovativ und breit aufgestellt, aber sie sind auch unmittelbare Marktteilnehmer. Eine sehr große Zahl befindet sich aufgrund von Corona in einer nie da gewesenen Schieflage und muss auf Rücklagen zurückgreifen, so sie sie denn welche haben“, erklärt Schadinger.
„Es ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass in vielen Werkstätten in Deutschland die Löhne sinken werden.“ Christian Schadinger, Mitglied im Landesvorstand der bayerische Behindertenwerkstätten
Als Signal hat der Werkstattrat, die Vertretung der Beschäftigten bei Noris Inklusion, im Sommer einer Streichung des Urlaubsgeldes zugestimmt. Damit konnte auch einer kurzfristigen Lohnkürzung vorgebeugt werden. Doch schon die Streichung des Urlaubsgeldes in Höhe von 60 Euro haben die Mitarbeiter der Noris Inklusion in Nürnberg gespürt. Eine dauerhafte Lohnkürzung bei durchschnittlich 250 Euro Verdienst im Monat würde ein richtig großes Loch ins Portemonnaie reißen.