Wenn Jenny an ihren Einzug im April zurückdenkt, erinnert sie sich vor allem an viele Fragen: Was mag Liam? Was isst er? Warum schreit das Baby manchmal minutenlang mit geschlossenen Augen? „Das ist nicht, weil ich Liam schlage. Das hat auch die Hebamme gesagt“, antwortet sie Monate später, wie zur Verteidigung. Sie rechtfertigt sich, aus Gewohnheit. Weil der schüchternen 27-Jährigen schon ihr Leben lang unterstellt wird, dass sie viel falsch macht. Dass sie die Welt nicht richtig versteht. Jenny, hellblonde Haare, schwarzer Kapuzenpulli, scheuer Blick, hat eine geistige Behinderung. Sie lebt mit ihrem Sohn Liam im Projekt „Begleitete Elternschaft“ der Diakonie Michaelshoven, um zu zeigen, dass sie eine gute Mutter sein kann.
„Die meisten Eltern werden vom Jugendamt zu uns geschickt, um sich hier zu beweisen“, sagt Barbara Heine, die Jenny und die sieben anderen Familien in den kleinen Appartements betreut. Aktuell sechs Frauen, ein Mann und ein Paar leben auf zwei Etagen – alle mit Baby oder Kleinkind. Was Heine in der Gemeinschaftsküche über ihre Arbeit erzählt, klingt nach gewöhnlichem Baby-Alltag: Wickeln, waschen, anziehen, Flasche geben, Arztbesuche. Dazu Besorgungen, Spazieren gehen, Babybrei kochen. Heine ist immer dabei. „Beim Einzug sind wir wie ein Schatten hinter den Bewohnerinnen“, sagt sie. Wenn Mütter wie Jenny sich um ihr Baby kümmern, kommen ständig neue Fragen auf. Ein Kind entwickelt sich so schnell, kaum krabbelt es, zieht es sich kurz danach an den Möbeln hoch, will von einem auf den anderen Tag die Windel nicht mehr gewechselt kriegen. Viele Bewohnerinnen und Bewohner kommen da nur schwer hinterher, sagt Heine, sie seien eben nicht so flexibel.
Man traut ihnen wenig zu
Neben Jenny sitzt an diesem Nachmittag Ines, ebenfalls lange, blonde Haare und ein pinker Hoodie. Beide Frauen wollen nicht, dass ihr Nachname in der Zeitung steht. Die 23-Jährige Ines erzählt stolz von ihrer kleinen Familie: Sie lebt mit ihrem Freund und dem gemeinsamen zweijährigen Sohn in der Wohngruppe. Der „süße Sohnemann“ sei gerade in der Trotzphase. „Er haut um sich und reißt sich an den Haaren, wenn wir beim Einkaufen durch die Leckerchen-Abteilung gehen“, erzählt sie. Man kann sich die Szene vor dem inneren Augen vorstellen: Eine junge, etwas unbeholfene Mutter und ein schreiendes Kleinkind zwischen Supermarktregalen. Die Mutter ist überfordert, findet nicht die richtigen Worte. Und die Umstehenden tauschen genervte Blicke.
„Man traut Menschen mit geistiger Behinderung oft nichts zu“, sagt Julia Zinsmeister, Professorin für Öffentliches Recht an der TH Köln. Sie beobachtet, dass das gesellschaftliche Bild über Eltern mit Behinderung oft noch von der Eugenik der Nationalsozialisten geprägt sei. Es gäbe den Mythos, dass Eltern mit Einschränkungen auch behinderte Kinder bekommen und man dies zum vermeintlichen Schutz der Kinder vermeiden müsse. Die Annahme stimmt nicht, weniger als drei Prozent aller geistigen Beeinträchtigungen sind angeboren. Nur weil ein Mensch Hilfe benötige, heißt das nicht, dass er nicht für einen anderen sorgen kann, sagt Zinsmeister.
Erst seit 1992 werden Menschen mit Behinderung nicht mehr gegen ihren Willen sterilisiert
Auch die deutschen Gesetze stehen bis Anfang der 90er Jahre noch in der Tradition der Nationalsozialisten. Erst mit der Betreuungsrechtsreform 1992 wurde es explizit verboten, Menschen mit Behinderung gegen ihren Willen zu sterilisieren. Unter der Voraussetzung, dass die Frau – die Verfahren betreffen überwiegend Frauen – dauerhaft „einwilligungsunfähig“ ist und eine Schwangerschaft „droht“, kann ein Richter theoretisch auch heute noch eine Sterilisation anordnen. Eine Studie des Familienministeriums stellt fest, dass fast ein Fünftel der Frauen „mit körperlichen, psychosozialen und intellektuellen Beeinträchtigungen“ bundesweit sterilisiert sind.
Jüngere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts stärken die Rechte der Eltern. Der Staat muss ihnen die Unterstützung ermöglichen, die sie benötigen, um für ihr Kind zu sorgen. So steht es auch in der Uno-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland unterschrieben hat. „Die Praxis sieht leider anders aus“, sagt Zinsmeister, die seit 20 Jahren zur Rechtssituation von Menschen mit Behinderungen forscht. Oft würden die Eltern zwischen verschiedenen kommunalen Ämtern hin- und hergeschoben, weil niemand die hohen Kosten übernehmen will. Leidet das Kind unter der mangelnden Unterstützung, droht ein Entzug des Sorgerechts.
Das Ziel ist ein selbstständiges Leben
Zinsmeister beobachtet, dass das Jugendamt oft pauschal eine Eltern-Kind-Wohngruppe anordne, ohne das Umfeld der Schwangeren zu berücksichtigen. Weil die Plätze bundesweit sehr begrenzt sind, müssen die Frauen nicht selten hunderte Kilometer weit weg ziehen. So ist es auch bei Jenny und Ines. Jennys Vater wohnt in Essen, noch vergleichsweise nah, Ines’ Eltern leben in Bayern. Sie hat ihren Vater seit über einem Jahr nicht gesehen. „Den würde ich gerne mal wieder umarmen.“ Erst einmal steht ihr Umzug an. Denn Ines und ihr Freund haben das Ziel eines selbstständiges Lebens in einem eigenen Zuhause erreicht.
Das wünscht sich auch Jenny. Zwar fühlt sie sich wohl in der Wohngruppe, viel wohler als in ihrer letzten – „dort hatte ich Panikattacken, eine Pädagogin hat mich ständig unter Druck gesetzt“ – doch langfristig will auch sie mit Liam ausziehen, ihren Schulabschluss nachholen, eine Ausbildung beginnen. So ist das Angebot auch vorgesehen, als Startpunkt, nicht als Dauerlösung. Doch eine Alternative müsse erst gefunden werden, sagt Heine. Eine Alternative, bei der die Eltern möglichst autonom leben und das Wohl des Kindes geschützt ist. Es schwingt die Frage mit: Was passiert, wenn Liam älter ist? Wie lange kann Jenny ihm bei den Hausaufgaben helfen?
Zur weiteren Entwicklung der Kinder geistig-behinderter Eltern gibt es kaum Studien. In einer Untersuchung der Universität Bremen geben Befragte an, dass ihnen oft erst nach der Einschulung bewusst wurde, dass ihre Eltern anders sind. Außerdem sind sie sich einig, dass die größte Belastung im Alltag der Kinder nicht die Einschränkungen der Eltern, sondern die Reaktionen des Umfeldes waren. Die Vorurteile, dass ihre Eltern keine guten Eltern sind. Weil sie Hilfe brauchen.