Weil die Immunabwehr von schwerbehinderten Menschen besonders schwach ist, kann das Coronavirus für sie lebensgefährlich sein.
Dennoch gehören viele von ihnen nicht zu den Impfgruppen mit höchster Priorität. Ein 24-Jähriger wehrt sich dagegen.
Vor Corona führte Christian Homburg ein fast normales Leben. Seine Arbeitszeit verbrachte der 24-Jährige im Büro, er ist technischer Produktdesigner bei Thyssenkrupp. In seiner Freizeit traf er Freunde und fuhr in den Urlaub. Homburg hat eine Schwerbehinderung, wegen der er im Rollstuhl sitzt und von Assistenten betreut wird, doch abgesehen davon unterschied sich sein Alltag kaum von dem anderer Menschen. Bis zum Beginn der Pandemie.
Seitdem arbeitet er zu Hause im nordrhein-westfälischen Warendorf und vermeidet bis auf seine Pfleger jeglichen Kontakt mit Menschen. „Ich habe vor allem sehr große Angst und muss völlig isoliert leben“, sagt er.
Seit seiner Geburt hat Homburg Duchenne-Muskeldystrophie, eine schwere und lebensbedrohliche Krankheit. Seine Muskulatur schwindet, sein Lungenvolumen ist auf 20 Prozent reduziert. Eine Ansteckung mit dem Coronavirus könnte tödlich enden. Seine große Hoffnung ist die Impfung. Doch die Politik scheint ihn und andere Betroffene vergessen zu haben.
Denn weil er zu Hause und nicht in einer Einrichtung gepflegt wird, gehört Homburg laut Impfverordnung nur zur dritten Gruppe der Menschen, die priorisiert geimpft werden sollen. In dieser Gruppe befinden sich Menschen über 60 sowie chronisch Kranke. Im schlimmsten Fall muss Homburg noch ein halbes Jahr auf seine Impfung warten. Und er ist nicht allein: 3,3 Millionen Menschen in Deutschland werden laut Statistischem Bundesamt zu Hause versorgt – viermal so viele, wie sich in Pflegeeinrichtungen befinden.
Homburg wehrt sich nun gegen die Einteilung der Impfverordnung. Mit einer Petition, die bis Mittwoch mehr als 56.000 Menschen unterschrieben haben, fordert er die Politik und insbesondere Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) dazu auf, Menschen mit Behinderung in Gruppe 1 oder 2 zu priorisieren. „Es kann nicht sein, dass wir unberücksichtigt bleiben“, sagt er.
Zu den Gruppen 1 und 2 gehören bislang vor allem Menschen, die in Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen leben oder arbeiten, außerdem die über 70-Jährigen, Menschen mit geistiger Behinderung und deren Kontaktpersonen.
Homburgs Wut auf die Politik hat sich seit Beginn der Pandemie hochgeschaukelt. „Von Anfang an wurden behinderte Menschen, die sich zu Hause in Pflege befinden, vergessen. Von der Politik getroffene Maßnahmen haben uns lange nicht erreicht“, sagt er.
Tatsächlich fehlte es an Schutzausrüstung und Schnelltests für die ambulante Pflege, auch FFP2-Masken gab es zunächst nur für Menschen mit weitverbreiteten chronischen Krankheiten, nicht aber bei seltenen wie Muskeldystrophie.
„Als wir bei der Impfstrategie nicht berücksichtigt wurden, hat es das Fass zum Überlaufen gebracht“, sagt Homburg. In der Impfverordnung der Bundesregierung werden unter Gruppe 3 vor allem Menschen mit chronischen Erkrankungen aufgelistet.
Dazu zählen Adipositas, Nieren- und Lebererkrankungen, HIV und Rheuma. Menschen mit neuromuskulären Erkrankungen, zu der auch Muskeldystrophie gehört, werden nicht erwähnt. Homburg erzählt, die Gesundheitsämter hätten erst mitgeteilt, dass sie zur Gruppe 3 gehören, als Betroffene nachfragten.
„Einzelne Betroffene haben dagegen geklagt und sind teilweise auch erfolgreich damit gewesen. Doch ich wollte eine Verbesserung für alle pflegebedürftige Menschen, deren Immunabwehr zu schwach wäre, um Corona zu besiegen“, sagt Homburg. Viele hätten zuvor schon resigniert, Unterstützung von der Politik gab es nicht. Mit der Petition werden die Betroffenen wieder sichtbar, findet Homburg.
Keine kostenlosen Masken für schwerbehinderte Menschen
Auch die Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern rückten das Thema mit einer gemeinsamen Erklärung in den Fokus. Sie forderten, die Impfverordnung so anzupassen, dass Menschen mit körperlicher Behinderung priorisiert geimpft werden. Zudem solle die geltende Beschränkung auf eine Kontaktperson aufgehoben werden.
„Bei vielen Menschen mit Behinderungen gibt es Verunsicherung, wie sie in der Impfpriorisierung berücksichtigt werden“, sagt Matthias Rösch, Landesbeauftragter in Rheinland-Pfalz und Sprecher der Beauftragtenkonferenz. „Hier muss die Impfverordnung des Bundes nachgebessert werden, um mehr Sicherheit für die Menschen mit Behinderungen zu erreichen.“ Kritisiert wird in der Erklärung auch, dass behinderte Menschen zu wenig berücksichtigt würden bei Maßnahmen, die ergänzend zur Impfstrategie vulnerable Gruppen schützen sollen.
Bislang werden diese Schutzmaßnahmen hauptsächlich für Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser umgesetzt. Kostenlose FFP2-Masken werden vor allem Menschen bereitgestellt, die über 60 Jahre alt sind, an Asthma, Krebs oder einer Herz-Nieren-Krankheit leiden. Auch Menschen mit Diabetes oder Trisomie 21 bekommen kostenlose Masken.
Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, sagt dazu: „So muss zum Beispiel die Versorgung mit FFP2-Masken deutlich ausgeweitet werden. Außerdem sollten Menschen mit einem erhöhten Infektionsrisiko und deren Assistenz- und Pflegekräfte einen Anspruch auf Schnelltests haben.“ Laut Dusel müssten sich Impf-, Schutzmasken- und Testverordnung ergänzen und ein sinnvolles und für alle nachvollziehbares Gesamtkonzept bilden. Das sei noch nicht der Fall.
Homburg sieht in der Pandemie einen Rückschritt bei der Inklusion. Auf Senioren und Menschen in Pflegeeinrichtungen werde zwar eingegangen; Pflegebedürftige unter 60 Jahren, die zu Hause betreut werden, berücksichtige man jedoch unzureichend.
„Es ist völlig richtig, dass man in Pflegeeinrichtungen zuerst impft. Wir sollten aber nicht allzu weit dahinter liegen.“ In anderen Ländern, beispielsweise in Österreich, gehörten Menschen mit Schwerbehinderung, die zu Hause betreut werden, gemeinsam mit ihren Assistenten zur ersten Impfgruppe.
Gänzlich auf Kontakt verzichten kann der 24-Jährige nicht – im Gegenteil. Weil er Tag und Nacht auf Assistenz angewiesen ist, beschäftigt er neun Pflegerinnen und Pfleger, mit denen er in körperlichem Kontakt steht. Das ermöglicht ihm zwar ein selbstbestimmtes Leben, führt aber auch zu einem ständigen Infektionsrisiko. „In Pflegeeinrichtungen sind die Kontakte zwar noch höher, ansonsten ist meine Situation aber vergleichbar.“
Impfung durch Einzelfallentscheidung
Nachdem die Petition erste Unterstützer gefunden hatte, meldete sich die Ständige Impfkommission zu Wort. Sie empfiehlt der Bundesregierung nun, Einzelfallentscheidungen zu treffen. Reagiert hat die Regierung darauf noch nicht.
Homburg befürwortet den Vorstoß, sieht darin aber keine Lösung für alle. „Viele haben nicht die Ausdauer, Kraft oder Zeit, eine Einzelfallentscheidung hartnäckig durchzubringen“, sagt er.
Eltern mit schwerbehinderten Kindern beispielsweise hätten mit Pflege, Job und dem Schutz vor dem Infektionsrisiko genug zu tun; solche Menschen würden weiterhin benachteiligt. Homburg fände es besser, Menschen nach ihrem Pflegegrad zu priorisieren. Man könnte, sagt er, die höchsten Pflegegrade, also vier und fünf, zur ersten Impfgruppe zählen. Diese Möglichkeit würden auch die Beauftragten von Bund und Länder unterstützen.
Mittlerweile ist Homburg mit einigen Politikern in Kontakt, insbesondere Landesparlamentariern aus Nordrhein-Westfalen. Mit seiner Petition will er 70.000 Unterschriften erreichen, er hofft, dass es bald so weit ist. „Ich habe das Gefühl“, sagt er, „es tut sich was.“