Behindert? Von wegen!
Menschen mit Behinderung sieht man in der Start-up-Szene nur selten. Dabei bringen sie häufig Eigenschaften mit, die Unternehmer gut gebrauchen können, wenn sie erfolgreich sein wollen.
Hätte es den Unfall nicht gegeben, Tim Herwig wäre wohl nie zum Gründer geworden. Mit 20 Jahren meldet sich der gebürtige Marburger freiwillig bei der Bundeswehr. Sein Ziel: Hochgebirgsjäger mit Einsätzen in Risikogebieten wie Afghanistan. Beim Training in den bayerischen Bergen stürzt er ab: Gebrochene Knochen und gerissene Muskeln am ganzen Körper, eine Woche Koma, vier Monate Krankenhaus, die ersten Wochen davon im Rollstuhl. „Ich war komplett kaputt“, fasst er seinen damaligen Zustand rückblickend zusammen.
Tim Herwig schafft, was kaum ein Arzt für möglich gehalten hat. Er kämpft sich zurück. Lernt wieder zu laufen, zu sprechen, sich zu konzentrieren. Von seinem schweren Unfall merken Menschen, die seine Geschichte nicht kennen, bis auf ein paar Narben heute nichts mehr. Dabei gilt der 31-Jährige zu 70 Prozent als schwerbehindert. So steht es in seinem Ausweis.
Der Unfall hat Tim verändert. Zwar arbeitet er wieder als Skilehrer und Bergführer, aber seine Einstellung zum Leben ist nicht mehr die gleiche. „Als ich im Rollstuhl saß, habe ich gemerkt, wie die Gesellschaft auf Menschen reagiert, die eine Behinderung haben – mit Unsicherheit und daraus resultierend mit einer gewissen Distanz.“
Gemeinsam Grenzen überwinden
Tim Herwig beschließt, diese Gräben zu überwinden und Gruppen zusammenbringen, die sonst nur wenige Berührungspunkte haben. Er studiert International Business und Coaching in Kanada, Dänemark und Deutschland und gründet im vergangenen Jahr schließlich sein Start-up „Berg über Kopf“, das Teambuilding-Maßnahmen anbietet, bei denen Mitarbeiter von Firmen auf Menschen mit körperlicher oder geistiger Einschränkung treffen – beim Paddeln, beim Klettern oder beim Wandern.
Wer als Kind schikaniert wurde, empfindet das auch später als Belastung. Dennoch kokettieren Manager und Promis gern mit ihrer schweren Kindheit. Was ist also dran am Spruch „Was dich nicht umbringt, macht dich härter“ ?
„Von diesem Zusammentreffen profitieren alle Beteiligten“, sagt Tim Herwig. „Beide Gruppen verschieben ihre Grenzen, weil sie Sachen machen, an die sie sich nie zuvor gewagt haben – das schweißt zusammen. Unabhängig davon, ob die Teilnehmer eine Einschränkung haben oder nicht.“
Häufig übersehene Geschäftsideen
Wenn es um die Eigenschaften geht, die erfolgreiche Gründer mitbringen müssen, ist oft die Rede von Disziplin und Geduld, von Kampfgeist und Durchhaltevermögen. Wer ein Unternehmen aufbauen will, der oder die darf auch in schwierigen Zeiten nicht direkt das Handtuch werfen. All das hat Tim Herwig bewiesen, als er sich aus dem Koma zurück ins Leben kämpfte. Und doch denkt kaum jemand, wenn er überlegt, wer all diese unabdingbaren Kompetenzen eines Entrepreneurs mitbringt, an Menschen mit Behinderung. Ein blinder Fleck, wie nicht nur die Geschichte von Tim Herwig zeigt. Und einer, der oft genug dazu führt, dass Investoren Geschäftsideen, die ebenso lukrativ wie gesellschaftlich relevant sind, zu selten auf dem Radar haben.
Zacharias Wittmann ist ebenfalls ein Kämpfer. Der 30-Jährige wurde mit offenem Rücken geboren. Seit er klein ist, nutzt er wegen seiner Querschnittslähmung einen Rollstuhl. Einschränken lässt er sich davon jedoch nicht. Nach dem Schulabschluss zieht er aus dem Allgäu ins mehr als 400 Kilometer entfernte Marburg, um dort Soziologie zu studieren. In dieser Zeit reift in ihm der Gedanke, ein eigenes Start-up namens Companion2go zu gründen, das Menschen mit und ohne Behinderung zum gemeinsamen Reisen oder dem Besuch von Events zusammenbringt. Obwohl er an seine Idee glaubt, ist da auch eine gewisse Unsicherheit – nicht zuletzt, weil ihm immer wieder Bekannte von dem Weg in die Selbstständigkeit abraten.
Gebremst von Freunden und Familie
Auch Manfred Radermacher erlebt es immer wieder, dass Menschen mit Behinderung auf dem Weg zum eigenen Start-up von anderen gebremst werden. Der 61-Jährige berät mit dem Verein „enterability“ Menschen mit Behinderung, die mit dem Gedanken spielen, ein eigenes Unternehmen zu gründen. „Da sind nicht nur die Familie oder Freunde Bedenkenträger, sondern oft auch offizielle Stellen, wie Arbeitsamt oder Jobcenter, die unsere Klienten oftmals lieber in einem vermeintlich sicheren Bürojob sähen.“
Dennoch hat der Berliner mit seinem Team in den vergangenen 15 Jahren alleine in der Hauptstadt 480 Menschen dabei geholfen, ihren Traum vom Gründen zu verwirklichen – von der Kulturvermittlerin über den Ergotherapeuten bis hin zum Unternehmensberater und der Rechtsanwältin. Der Grund für den Schritt in die Selbstständigkeit ist bei den meisten oft der gleiche: „Weil sie aufgrund ihrer Beeinträchtigung Bedingungen brauchen, die sie auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht finden, etwa Flexibilität, was die Arbeitszeiten angeht, regelmäßige Pausen oder eine reizarme Umgebung. Die Selbstständigkeit gibt ihnen die Chance, ihren Arbeitsplatz eigenständig zu gestalten.“
Fehlende Vorbilder
Wie viele Gründer mit Handicap es deutschlandweit gibt, kann Radermacher nicht sagen. Das ist nirgendwo eindeutig erfasst. Er geht aber davon aus, dass zumindest das Interesse viel höher sei als oft vermutet: „An der Umsetzung hapert es jedoch“, sagt Radermacher, „viele trauen sich am Ende doch nicht, es fehlen die Vorbilder.“
Auch darum hofft Zacharias Wittmann, dass sein Beispiel Schule macht und man in Zukunft mehr Gründer mit Handicap sieht. Auch ihn treibt eine ähnliche Mission wie Tim Herwig: Sein Start-up „soll dabei helfen, gesellschaftliche Grenzen zu überwinden und Barrieren in den Köpfen zu durchbrechen. Was spielt es am Ende für eine Rolle, wenn man die gleiche Musik hört und gemeinsam auf ein Konzert gehen möchte, ob einer der beiden im Rollstuhl sitzt?“
Falsche Anerkennung nervt
Zacharias Wittmann hat lange überlegt, ob er seine genaue Krankengeschichte teilen will. Er will auf keinen Fall auf seine Behinderung reduziert werden. Sprüche wie „Toll, dass du das packst, das hätte ich ja echt nicht gedacht!“, die er manchmal hört, nerven ihn eher, als dass sie ihn mit Stolz erfüllen.
Doch fest steht auch, dass es ohne seine persönliche Erfahrung Companion2 go niemals gegeben hätte. Durch seine Behinderung weiß er, wie es sich anfühlt in bestimmten Situationen ausgeschlossen zu sein, erst seine Biographie legte die Grundlage für seine Geschäftsidee.
In den vergangenen Jahren wurde Wittmann mehrfach operiert, überstand unter anderem eine lebensbedrohende Blutvergiftung. Es ist kein leichtes Leben, dass er führt – und lassen ihn die gesundheitlichen Sorgen auch daran zweifeln, ob sich die Mühe für sein Start-up lohnt. Trotzdem hat er die Entscheidung, ein Unternehmen gegründet zu haben, nie bereut: „Für den Erfolg eines Konzepts ist es doch essentiell seine Zielgruppe und ihre Bedürfnisse genau zu kennen und das trifft definitiv auf mich zu.“
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