Wie Kinder und Jugendliche mit Behinderung in Heimen lebten, hat Professor Karsten Laudien vom Deutschen Institut für Heimerziehungsforschung in Berlin untersucht. Mit seinem Team beteiligt er sich außerdem an einer Studie im Auftrag der Stiftung Anerkennung und Hilfe, die klären soll, wie Kinder und Jugendliche in Einrichtungen der Behindertenhilfe und in Psychiatrien in der BRD und DDR untergebracht und behandelt wurden. Die Stiftung entschädigt Betroffene, die Antragsfrist läuft bis Ende 2020.
Link zum Interview mit Heimerziehungsforscher Karsten Laudien
MDR Selbstbestimmt: Wenn wir auf die Nachkriegszeit in der BRD und DDR schauen: Wie wurden Menschen mit Behinderung da behandelt?
Prof. Dr. Karsten Laudien: Nach dem Krieg galt die Devise: „Satt, sauber, trocken“ für die gesamte stationäre Unterbringung. Wenn Menschen mit Behinderung was zu essen hatten, wenn sie saubere Kleidung hatten und es nicht rein regnete in die Unterbringung, dann war die Grundversorgung zufriedenstellend gelöst, wie man damals fand. Es gab kaum Ansätze von Bewegungstherapie, Arbeitstherapie, geschweige denn individuelle Therapien. Im Grunde genommen war das die Zeit der letzten Ausläufer der einfachen Verwahrung. Diese Menschen sind weder behandelt noch gefördert, sondern ruhig gestellt und ernährt worden. Natürlich ging man mit ihnen auch mal spazieren, im Rahmen der Möglichkeiten, die das Personal hatte. Irgendwann haben sie auch einen Fernseher bekommen, später sind auch verhaltenstherapeutische Elemente hinzugekommen. Aber zunächst ging es darum, den Grundstand an Versorgung sicher zu stellen und das war schon viel für die damalige Zeit.
Wie war die Situation für Kinder und Jugendliche in Einrichtungen der Behindertenhilfe, wenn man die Verhältnisse in der DDR und BRD vergleicht?
Sie haben ähnliche Schicksale, ähnliche bestehende oder fehlende Familienbindungen. Es gab ähnliche Essgewohnheiten oder Disziplinprobleme in Ost wie West. Sie waren ähnlich unterversorgt in medizinischer Hinsicht. Sie sind häufig fehlbelegt worden. Insgesamt waren die Verhältnisse ähnlich. Das heißt, die ideologische und weltanschauliche Ausrichtung ist schon wichtig, das gehört zur Beschreibung dazu, aber im Alltag spielte sie gar nicht so die große Rolle.
Weshalb konnte Gewalt in Einrichtungen der Behindertenhilfe und in Heimen entstehen?
Die Ermöglichungsbedingungen für Gewalt sind angelegt in der Struktur: Wenn ich eine Einrichtung habe, in der wenig Erzieherpersonal und viele Kinder sind, wenn die Kindergruppen alle homogen sind, wenn es einen straffen Tagesablauf gibt, der eingehalten werden muss, wenn es restriktive Besuchsregelungen gibt, wenn es auch eine Abgeschlossenheit gibt, wenn alle ähnliche Informationen erhalten … So werden alle vereinheitlicht, es entsteht eine „totale Institution“. Diesen Begriff prägte der US-Soziologe Erving Goffman für Organisationsformen, die alle Lebensäußerungen regulieren oder kontrollieren sollen. So eine Struktur provoziert geradezu Gewalt, auch weil man sich nicht anders zu helfen weiß. Und sie bestand lange fort, im Osten bis zum Untergang der DDR, im Westen ab den 1968er-Jahren abnehmend.
Trotzdem die Frage: Von wem ging die Gewalt in den Einrichtungen aus?
Da ist die Gewalt der Erzieher und Erzieherinnen gegen die Kinder und Jugendlichen. In manchen Einrichtungen hatte sie System. Man darf nicht vergessen: Damals in den 1960er-, 1970er-Jahren war es nicht unüblich, dass Kinder und Jugendliche zuhause von ihren Eltern Prügel bezogen. Das ist nicht vergleichbar mit Prügel in Einrichtungen. Aber beides ist damals nicht ausgeschlossen, teilweise sogar üblich gewesen. Heute kann beides ebenfalls noch vorkommen, der große Unterschied ist: Wir urteilen moralisch anders darüber.
Das zweite Phänomen ist die Gewalt untereinander. Alle Jugendgruppen sind gewaltförmig: Man will sich ausprobieren, man hat einen Überschuss an Lebenslust und allen möglichen Kräften. Man hat ein großes Interesse, Hierarchien auszubauen bzw. sich selber in Hierarchien nach oben zu kämpfen, so dass alle Kinder- und vor allem Jugendgruppen potenziell gewaltförmig sind. Gute Pädagogik versucht das mit bestimmten Methoden wie der Anerkennungsverteilung auszuhebeln. Schlechte Pädagogik kennt diese Mittel nicht, viele der damaligen Erzieher waren letztlich gar nicht ausgebildet.
Und dass es so unter den Jugendlichen zu Gewaltausbrüchen kommen konnte und dass Betroffene immer wieder sagen, die Gewalt untereinander sei mindestens genauso schlimm für sie gewesen wie die Gewalt von den Erziehern, das ist eins der schlimmsten Kapitel dieser Zeit.
Wie verbesserten sich die Bedingungen in der Behindertenhilfe?
In der Bundesrepublik vollzog sich ab Mitte der 1960er-Jahre ein Bewusstseinswandel. Nicht in der Gesamtbevölkerung, aber in einigen Teilen. Es gab im Bereich der Jugendhilfe die Heimkampagne, die tatsächlich darauf ausgerichtet war, die Heimkinder „zu befreien“. Zumindest hat sie auf die Zustände hingewiesen. In dem Kontext gerieten die anstaltsförmigen Einrichtungen überhaupt in die Kritik.
Aber außerdem hat man bemerkt, dass die Förderungsmöglichkeiten viel größer sind, als man dachte: Dass auch Kinder, die nicht in die Schule gehen konnten, förderungsfähig sind. So entstanden in den Einrichtungen Ende der 1960er-, 1970er-Jahre Bastelstätten, Tischlereien und Töpfereien, alles Mögliche, was man gewissermaßen herstellen und auch ökonomisch verwerten kann.
Im Osten ist das auch passiert, aber es blieb eher theoretisch. Es gibt die Rodewischer Thesen, benannt nach einer Anstalt in Sachsen. Dort hat man versucht, schon 1963 vom Anstaltsdenken wegzukommen. Demnach sollten die Gruppengrößen geringer werden, die Erzieher eine Ausbildung haben. Die Kinder sollten individuell betrachtet werden, nicht nur als Gruppe. Das bedeutete beispielsweise, Kinder, die körperliche Schäden haben, nicht zusammenzustecken mit Kindern, die geistige Behinderungen haben und umgekehrt. Das war also angedacht. Das Hauptproblem in der DDR war, dass die ökonomischen Probleme gerade in den ländlichen Gegenden so groß waren, dass diese Ideen nicht umgesetzt werden konnten.
Welche Spätfolgen können bei Menschen beobachtet werden, die als Kinder und Jugendliche in Heimen leben mussten?
Viele Menschen, die solche Einrichtungen durchlaufen haben, bekamen nur eine schlechte Schulausbildung, sie erreichten nur eine geringe berufliche Qualifikation, ganz selten haben sie studiert. So befinden sie sich häufig in einer sozialen Position, die ihrem eigenen Selbstbild nicht entspricht. Sehr viele von ihnen sind auf Sozialhilfe angewiesen. Neben dem sozialen Bereich gibt es den psychischen: Es gibt sehr viele Menschen, die die Erfahrungen aus ihren zerrütteten Kindheiten an ihre Kinder weitergeben. Man kann gar nicht abwägen, welcher Aspekt schlimmer ist. Das Gefühl in Verhältnissen gelebt zu haben, in denen man im Kollektiv untergehen musste, in denen man hilflos war, in denen man Erfahrungen von Demütigung machen musste, in denen man nicht gelernt hat, ein Selbstwertgefühl zu entwickeln, das geht alles schwer aus dem eigenen Kopf wieder raus.
Kinder und Jugendliche, die in Heimen leben mussten, haben später oft ein gestörtes Selbstwertgefühl. Das dokumentieren sie auch. Sie haben das Gefühl, immer unterlegen zu sein: ‚Die Anderen haben immer Recht, ich habe immer Unrecht. Andere können was, ich kann nichts.‘ Sie haben nicht das Gefühl, dass sie was leisten können, dass sie Achtung verdienen. All das sind langfristige psychische Folgen. Das betrifft nicht alle Kinder, muss man ganz deutlich sagen, aber es betrifft sehr viele.
Das Gespräch führte Franziska Kruse, MDR Selbstbestimmt.
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