Der internationale Tag der Menschen mit Behinderung wird seit 1993 jedes Jahr am 3. Dezember begangen. Er soll das Bewusstsein für die Belange von Menschen mit Behinderungen stärken. In Deutschland fällt die Bilanz in Sachen Inklusion gemischt aus.
Nicht nur der öffentliche Nahverkehr, auch das Bildungssystem ist noch immer nicht überall barrierefrei. Ein Mann im Rollstuhl in einer Hamburger U-Bahn-Station. (© picture-alliance)
Ende 2017 lebten nach Angaben des Statistischen Bundesamts 7,8 Millionen Menschen mit einer Schwerbehinderung in Deutschland, also fast ein Zehntel (9,4 Prozent) der Gesamtbevölkerung. Als schwerbehindert gelten Personen, denen die Versorgungsämter einen Grad der Behinderung von mindestens 50 zuerkannt haben. Die meisten von ihnen haben körperliche Beeinträchtigungen, mehr als die Hälfte war 65 Jahre oder älter.
Der 1992 von den Vereinten Nationen ausgerufene Internationale Tag der Menschen mit Behinderung soll jedes Jahr am 3. Dezember weltweit das Bewusstsein für ihre Belange schärfen und den Einsatz für ihre Würde und Rechte fördern. In Deutschland setzen sich verschiedene Institutionen und Verbände seit Jahren für mehr Teilhabe und Inklusion ein, wie etwa der Deutsche Behindertenrat, Aktion Mensch, Sozialhelden, der Sozialverband VdK oder der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Dort sind auch viele Betroffene organisiert.
Konkrete Vorgaben für ein gleichberechtigtes Miteinander
Im Grundgesetz ist seit 1994 festgelegt, dass „niemand […] wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ darf. Mit der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) können sich Menschen mit Behinderungen auf ein umfangreiches verbindliches Regelwerk berufen. Deutschland hat sich bereits vor zehn Jahren zur Umsetzung der Konvention verpflichtet. Sie definiert Behinderung als Wechselwirkung von körperlichen, seelischen, geistigen oder Sinnesbeeinträchtigungen und gesellschaftlichen bzw. infrastrukturellen Hürden.
Die Konvention beschränkt sich nicht auf ein allgemeines Diskriminierungsverbot, sondern macht den Unterzeichnerstaaten konkrete Vorgaben, wie sie ein gleichberechtigtes Miteinander umsetzen sollen: etwa durch das Recht auf inklusive Bildung, die als globale Menschenrechtsnorm verankert wurde, oder den Abbau von Barrieren im öffentlichen Raum. Außerdem verpflichtet die Konvention die Vertragsstaaten dazu, die Umsetzung des Übereinkommens von einer unabhängigen Stelle überwachen zu lassen. In Deutschland ist das Institut für Menschenrechte in Berlin für die Kontrolle zuständig.
Recht auf inklusive Bildung
Ein Jahrzehnt nach Unterzeichnung der Behindertenrechtskonvention sehen Sozialverbände und Interessensverbände noch Defizite bei der gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben. Das betrifft zum Beispiel die Umsetzung der Inklusion im Bildungsbereich, also das Recht, dass Schülerinnen und Schüler mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichtet werden.
2016 besuchte dem Institut für Menschenrechte zufolge 4,3 Prozent der Schülerinnen und Schüler bundesweit eine Fördereinrichtung statt einer Regelschule. Die Zahl der Förderschülerinnen und -Schüler ist seit der Verabschiedung der UN-BRK um 0,6 Prozentpunkte leicht zurückgegangen. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler an Regelschulen unterscheidet sich in den verschiedenen Bundesländern und ist in Bremen und Schleswig-Holstein besonders hoch. Wie gut und wie inklusiv der Unterricht ist, lässt sich an diesen Quoten allerdings nicht ablesen.
Ob und wann eine vollständige Inklusion an Schulen erreicht werden muss, wird kontrovers diskutiert. Während etwa das Institut für Menschenrechte ein Schulsystem ohne Sonderstrukturen wie Sonder- und Förderschulen fordert und in einem 2019 vorgestellten Bericht große Herausforderungen bei der Gestaltung eines qualitativ hochwertigen inklusiven Schulsystems sieht, sprechen sich andere Verbände, wie der Deutsche Lehrerverband im Jahr 2018, für eine einstweilige Aussetzung von Inklusion an deutschen Schulen aus, bis diese strukturell besser darauf vorbereitet sind.
Das Bundesteilhabegesetz soll die Selbstbestimmung stärken
Gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen wird auch von ihrem Zugang zum Arbeitsmarkt abgeleitet. Während 2017 gemessen an der Gesamtbevölkerung 75,2 Prozent der 15-65-Jährigen erwerbstätig waren, war der Anteil von schwerbehinderten Berufstätigen deutlich geringer. Er liegt in dieser Altersgruppe bei 46,9 Prozent. Zwischen 300.000 und 312.000 Menschen mit Behinderung arbeiten zudem in speziellen Werkstätten – also abgekoppelt vom ersten Arbeitsmarkt. Die Werkstätten sollen der Qualifizierung und Beschäftigung dienen. Kritisiert wird unter anderem, dass ein Übergang in den ersten Arbeitsmarkt selten stattfinde. Tätigkeiten in einer Werkstatt sind außerdem vom Mindestlohn ausgeschlossen und bieten selten eine Möglichkeit, den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Kritisiert werden die Werkstätten auch vom Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen. Er empfahl 2015 die schrittweise Abschaffung der Werkstätten. Menschen, die dort arbeiten, sollen stattdessen in den sogenannten ersten Arbeitsmarkt inkludiert werden.
Ende 2016 verabschiedete der Bundestag das Bundesteilhabegesetz. Es soll die Teilhabe am Arbeitsleben und die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen stärken. Darin wird unter anderem der Leistungskatalog der Eingliederungshilfe konkretisiert. Auch wurden die Elternassistenz und die Assistenz in der Weiterbildung und im Studium erstmalig ausdrücklich geregelt. Kritikerinnen und Kritiker bemängelten unter anderem das sogenannte Pooling, das bestimmte Leistungen für mehrere Betroffene zusammenfasst, etwa eine Schulassistenz für mehrere Schüler und Schülerinnen.
Der Einstieg in reguläre Betriebe soll durch ein Budget für Arbeit erleichtert werden und Anreize für Unternehmen geschaffen werden. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber können sich so einen großen Teil des Gehalts für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Behinderung erstatten lassen. Außerdem gewährt das Budget für Arbeit einen Anspruch auf Anleitung und Begleitung am Arbeitsplatz, zum Beispiel durch eine Assistenz. Seit seiner flächendeckenden Einführung im Januar 2018 wurde das Budget bislang nur in geringem Umfang in Anspruch genommen. Am 1. Januar 2020 treten weitere Regelungen des Gesetzes in Kraft, die zum Beispiel den Freibetrag für Personen erhöhen, die sogenannte Eingliederungshilfen beziehen.
Mehr politische Mitbestimmung
Für einen Schritt in Richtung politische Inklusion sorgte 2019 das Bundesverfassungsgericht. Anfang dieses Jahres entschieden die Richterinnen und Richter, dass Menschen, die in allen Angelegenheiten betreut werden, nicht länger pauschal von Bundestags- und Europawahlen ausgeschlossen werden dürfen. Gleiches gilt für Straftäterinnen und Straftäter, die wegen Schuldunfähigkeit in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht wurden. Betroffen von dem Urteil sind mehr als 80.000 Menschen in Deutschland, für die ein Gericht einen Betreuer in allen Lebensbereichen bestellt hat, etwa weil sie psychisch oder kognitiv beeinträchtigt sind. Nach dem Urteil beschloss der Bundestag die Einführung eines inklusiven Wahlrechts.
Für weiteren Diskussionsstoff sorgte dieses Jahr die Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses, ein Gremium aus Krankenkassen, Ärztinnen und Ärzten und Kliniken, Bluttests zur Erkennung von Trisomie 21 bei sogenannten Risikoschwangerschaft in „begründeten Einzelfällen“ von den Krankenkassen finanzieren zu lassen. Der Bluttest gilt als weniger riskant als die bisher üblichen Fruchtwasseruntersuchungen, die von den Kassen bezahlt werden. Kritikerinnen und Kritiker befürchten, dass aufgrund des Tests in Zukunft mehr Kinder mit Trisomie 21 abgetrieben werden.