Vorschlag für eine Strategie der EU zugunsten von Menschen mit Behinderungen für die Zeit nach 2020
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat sich vergangene Woche zum Ziel einer „Union der Gleichberechtigung“ erklärt. Ein Blick nach Deutschland und Frankreich anlässlich des Internationalen Tages der Menschenrechte zeigt: Der Weg dahin ist noch weit.
Über 100 Millionen Personen mit Behinderung leben Schätzungen zufolge in der EU. Vielen von ihnen werden „nach wie vor ihre grundlegenden Menschenrechte verwehrt“, urteilte das Europaparlament Mitte Juni in einem Vorschlag für eine Strategie der EU zugunsten von Menschen mit Behinderungen für die Zeit nach 2020.
Dazu zählen laut der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen etwa das Recht auf Arbeit und den Schutz vor Arbeitslosigkeit, die freie Fortbewegung und die Zugänglichkeit öffentlicher Ämter. Aber auch das Recht auf Würde und die Mitgestaltung öffentlicher Angelegenheiten.
Zwar hat die EU sich bereits im Jahr 2000 in ihrer Charta der Grundrechte zur Nichtdiskriminierung ihrer Bürger auch aufgrund einer Behinderung bekannt. 2011 hat die Union die UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben. Und mit der Europäischen Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen 2010-2020 hatte die EU es sich zum Ziel gesetzt, „Menschen mit Behinderungen in die Lage zu versetzen, ihre vollen Rechte wahrzunehmen und uneingeschränkt an der Gesellschaft und der europäischen Wirtschaft teilzuhaben“.
Dem Europaparlament zufolge sind mit dieser Strategie bis heute aber „nur begrenzte Fortschritte erzielt“ worden, wie aus einer Entschließung vom März 2020 hervorgeht. Noch immer leiden Behinderte in der EU unter höheren Arbeitslosenquoten, sozialer Ausgrenzung, Armut und Diskriminierung.
Deutschland befindet sich nach den neu veröffentlichten Ergebnissen des Migrant Integration Policy Index (MIPEX) nicht mehr unter den Top 10 der Integrationspolitik. Der deutsche Ansatz bietet keine langfristige Sicherheit für Nicht-EU-MigrantInnen, und sein Antidiskriminierungsschutz ist „einer der schwächsten“ in allen …
Deutschland: Handlungsbedarf bei Barrierefreiheit und Partizipation
In Deutschland etwa, wo rund 7,8 Millionen Bürger an einer Schwerbehinderung leiden, ist eine Behinderung das fünfthäufigste Motiv für Diskriminationen, nach Alter, Geschlecht, Religion und ethnischer Herkunft. Am ehesten diskriminiert fühlen Personen mit Behinderung sich im Bereich der Arbeit, wie eine Umfrage der Antidiskriminierungsstelle des Bundes aus dem Jahr 2015 ergab.
So lag die allgemeine Arbeitslosenquote in Deutschland 2018 bei 6,5 Prozent. Für schwerbehinderte Menschen dagegen war die Quote fast doppelt so hoch (11,2 Prozent).
Private und öffentliche Arbeitgeber mit mehr als 20 Mitarbeitenden sind in Deutschland zwar gesetzlich verpflichtet, mindestens 5 Prozent der Arbeitsplätze an Personen mit Behinderung zu vergeben. Mehr als ein Drittel aller beschäftigungspflichtigen Unternehmen stellen aber dennoch keine Schwerbehinderten ein und nehmen stattdessen Ausgleichszahlungen in Kauf, wie es aufseiten der Antidiskriminierungsstelle des Bundes heißt.
Immerhin: Während der Coronakrise ist die Zahl der Arbeitslosen zwar weiter gestiegen, prozentual waren Behinderte davon aber weniger stark betroffen als die Gesamtbevölkerung.
Auch bei der Barrierefreiheit muss Deutschland noch Fortschritte machen. Je nach Bundesland werden zwischen 35 und 50 Prozent aller Ortschaften als nicht oder nur bedingt rollstuhlgerecht eingeschätzt.
„Deutschland hat auf dem Weg zur Barrierefreiheit schon einiges erreicht“, meint Karl Finke, Mitglied des Bundesvorstands des Bundesverbandes Selbsthilfe Körperbehinderter. „Aber es gibt im Hinblick auf die Zugänglichkeit von Diensten, Informationen, Kommunikation und Transportmitteln natürlich noch viel zu tun. Für Rollstuhlfahrer beispielsweise gibt es im öffentlichen Personennahverkehr auf jeden Fall noch Handlungsbedarf.“
Ein Beispiel: Jeder fünfte Bahnhof in Deutschland ist einer Erhebung von Statista im Juli 2020 zufolge nicht barrierefrei – das heißt, laut gesetzlicher Definition „ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar“.
Besonders wichtig sei es bei der Maßnahmenfindung aber, gerade die betroffenen Personen in Entscheidungen und Umsetzung mit einzubeziehen. „Das übliche ‚wir reden über euch, ohne euch zu fragen‘ ist Schnee von gestern“, erklärt Karl Finke. „Wir brauchen, in Deutschland und auch in Europa, mehr Teilhabe und eine Entscheidungsfindung auf Augenhöhe.“ Denn auch die politische Entmündigung behinderter Menschen sei eine Form von Diskrimination.
Um die von der Kommissionspräsidentin anvisierte „Union der Gleichberechtigung“ zu erreichen, brauche es auch die Einführung eines europäischen Behindertenausweises, der überall in Europa die gleichen Rechte und Zugänge garantiere. Außerdem fordert Karl Finke die Durchsetzung einheitlicher Standards, was beispielsweise die Regeln für Begleitpersonen betrifft, um die grenzüberschreitende Mobilität für Personen mit Behinderung zu garantieren.
Behinderung bleibt in Frankreich der wichtigste Beweggrund für Diskriminierung
Großen Handlungsbedarf gibt es auch in Frankreich. Das Land zählt etwa 12 Millionen Behinderte, eine Zahl, in die neben den Schwerbehinderungen auch die sogenannten unsichtbaren Behinderungen mit einfließen.
„Seit drei Jahren steht die Behinderung hier an erster Stelle der Gründe für Diskriminierungen“, erklärt Pascale Ribes. Für die Administratorin des APF France Handicap, einer Organisation, die sich landesweit für die Vertretung und Verteidigung von Personen mit Behinderung einsetzt, handelt es sich dabei um eine „systemische Diskriminierung“.
Auch in Frankreich sind Behinderte etwa zweimal so häufig von Arbeitslosigkeit betroffen wie der Rest der Bevölkerung, 2019 lag die Quote bei 18 Prozent.
Und in Sachen Barrierefreiheit liegt das Land weit hinter den europäischen Ambitionen (und den rechtlichen Grundlagen) zurück: 9 von 10 Personen mit Behinderung stoßen bei der täglichen Fortbewegung auf Schwierigkeiten, wie aus einer im Januar 2020 veröffentlichen Umfrage von APF France Handicap hervorgeht.
Demnach waren 39 Prozent der Befragten mit der Zugänglichkeit öffentlicher Ämter unzufrieden. Für den Zugang zu Arztpraxen und Schulen waren es gar 43 Prozent, für Geschäfte, Bars und Restaurants jeweils über 50 Prozent. Und fast drei Viertel aller Befragten äußerten sich negativ über die Barrierefreiheit im öffentlichen Raum (72 Prozent).
Die Coronakrise habe viele dieser Probleme verstärkt, ihnen aber auch zu mehr Sichtbarkeit verholfen, erklärt Pascale Ribes. Denn „kein Notfallplan hat jemals die spezifischen Probleme von Menschen mit Behinderung ausreichend mit in Betracht gezogen“, so Pascale Ribes.
Der französische Wiederaufbauplan (France Relance) für die Zeit nach der Krise beinhalte aber nach wie vor nicht genug neue Ansätze für die Gleichstellung Behinderter. Immerhin ein wichtiger Punkt sei aber in den Plan eingeflossen: Zukünftig soll die Verbesserung der Barrierefreiheit eine der Voraussetzungen für die finanzielle Unterstützung von Bau- und Renovierungsvorhaben darstellen.
Emmanuel Macron hatte das Thema Behinderung bereits zu Beginn seiner Präsidentschaft 2017 zu einer Priorität für seine Regierungszeit erklärt. Aber „in Sachen Barrierefreiheit haben wir in Frankreich in den vergangenen Jahren kaum Fortschritte gemacht“, bedauert Pascale Ribes. Die jüngste Sitzung des Interministeriellen Komittees für Behinderungen unter Leitung des neuen Premierministers Jean Castex im vergangenen November habe nun zwar eine deutliche Bereitschaft für neue Fortschritte spüren lassen. „Aber die Vorschläge der Regierung reichen immer noch nicht aus“, so Ribes.
Von der zukünftigen Strategie der EU zugunsten von Personen mit Behinderung, deren Enthüllung im Frühjahr 2021 erwartet wird, erhofft sich die Administratorin des APF France Handicap darum viel. Es sei wichtig, „die UN-Behindertenrechtskonvention endlich in die Tat umzusetzen und sämtlichen Personen mit Behinderung den Zugang zu ihren Grundrechten zu garantieren.“