7,9 Millionen Menschen leben allein in Deutschland mit einer Behinderung. Immer mehr Modemarken bringen Kleidung auf den Markt, die ihren Ansprüchen genügen soll. Ob sie das auch tut? Der Vorsitzende des Berliner Behindertenverbands hat die „Adaptive Wear“ dem Alltagstest unterzogen.
Ein kleiner Fehler mit blutigen Folgen. Vor einigen Jahren in Urlaub tackerte ihm die Hotelwäscherei die Zimmernummer ins Hosen-Etikett. Dominik Peter hatte sie übersehen, und das kleine, spitze Stück Metall scheuerte den ganzen Tag an seinen Rücken, während er durch die Straßen von Vientiane in Laos rollte. Er merkte das erst am Abend, der 55-Jährige ist querschnittsgelähmt. Doch es muss nicht gleich eine spitze Metallklammer sein, schon eine falsche Naht kann Rollstuhlfahrern schmerzhafte Druckstellen verursachen. Die richtige Kleidung zu finden ist für Menschen mit Behinderungen immer eine schwierige Aufgabe. Nun haben mit Nike und Tommy Hilfiger erstmals zwei große Modekonzerne spezielle Kollektionen entworfen.
Mehr als eine Milliarde Menschen weltweit leben mit einer Behinderung. 7,9 Millionen schwerbehinderte Menschen sind es allein in Deutschland. Sie alle brauchen mal mehr, mal weniger spezielle Kleidung. Ein riesiger Markt, der bisher von kleineren Herstellern versorgt wurde. Einer Massenproduktion steht die große Individualität einer jeden Behinderung gegenüber. Stark vereinfacht: Mag es für Menschen mit verkürzten Armen beispielsweise nahezu unmöglich sein, Schuhe zu binden, achten Rollstuhlfahrer beim Hosenkauf auf den perfekten Sitz-Schnitt. Wieder anderen ist es nicht möglich, Knöpfe zu benutzen. Über diese praktischen Herausforderungen wollen sich nun auch Markenartikler den Kopf zerbrechen.
Dominik Peter ist begeistert. Der Vorsitzende des Berliner Behindertenverbands ist seit 1998 querschnittsgelähmt und sitzt im Rollstuhl. Bisher kaufte er die meisten Klamotten bei Herstellern, die „die Behinderung im Namen tragen“, wie er sagt. Seine Lieblingsjeans kommen von „Rolli-Moden“. Andere Hersteller heißen „Rollitex“, oder „Rolling-Pants“. Dabei gibt es unter Menschen mit besonderen Bedürfnissen häufig den großen Wunsch, „als ganz normal wahrgenommen zu werden“, so Peter.
Doch Rollstuhlfahrer wie Dominik Peter stehen noch vor weiteren alltäglichen Mode-Herausforderungen. Der spezielle Schnitt der Kleidung spielt eine große Rolle. Bei Hosen bedeutet das, dass sie hinten etwas höher sind als vorne und dass die Taschen etwas mittiger auf den Oberschenkel versetzt sind. So kann sitzend einfacher hineingefasst werden und der Inhalt gleichzeitig weniger schnell herausfallen. Hemden und T-Shirts sind vorne kürzer als hinten, „sonst sieht das aus, als trüge man ein Nachthemd“. Außerdem ist im Idealfall der Schulterbereich weiter geschnitten, um das Vor und Zurück der Arme beim Anschieben des Rollstuhls zu ermöglichen. Aus diesem Grund hat Peter schon vor Jahren aufgehört, Sakko zu tragen.
Tommy Hilfiger ist das Thema „Kleidung für Menschen mit besonderen Bedürfnissen“ vertraut. „Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie es ist, Kinder mit Autismus großzuziehen. Das morgendliche Anziehen war immer ein großes Thema in unserem Haushalt. Ich habe gesehen, wie es für Kinder ist, wenn sie nicht die gleichen Sachen anziehen können wie ihre Schulfreunde“, erzählt der Designer, der ein autistisches Kind hat. Die „Adaptive“-Kollektion umfasst deshalb neben Herren- und Frauenmode auch Kindersachen.
Bei den meist unauffällig eingearbeiteten Funktionen handelt es sich um Magnetverschlüsse und verlängerte Reißverschlusszüge, um Menschen mit eingeschränkter Fingerfertigkeit zu helfen. Seitennahtöffnungen, verstellbare Säume und breite Beinöffnungen lassen Raum für Prothesen. Verstellbare Träger, elastische Taillen und leicht zu öffnende Ausschnitte erleichtern das An- und Ausziehen. Zuggurte, verstellbare Träger und elastische Schlaufen machen das Hochziehen der Hose komfortabler. Einige der Erfindungen werden vielleicht bald auch in der regulären Kollektion zu finden sein. „Der Magnetreißverschluss ist ein gutes Beispiel. Es war schnell klar, dass die Möglichkeit, eine Jacke mit einer Hand zu schließen und zu öffnen, etwas ist, das jeder zu schätzen weiß“, sagt Hilfiger.
In den USA ist „Adaptive Wear“ längst normal
„In Amerika hat alles, was mit Behinderung zu tun hat, einen ganz anderen Stellenwert“, sagt Dominik Peter. „Der bereits 1990 erlassene und von Obama 2010 überarbeitete ,Americans with Disabilities Act‘ legte beispielsweise fest, dass alle öffentlich zugänglichen Swimmingpools barrierefrei sein müssen. Es gab einen riesigen Aufschrei, weil die Hersteller der Pool-Lifts nicht in der Lage waren, innerhalb von drei Jahren 100.000 Lifts zu bauen.“
Kleidung für Menschen mit besonderen Bedürfnissen ist in den USA Normalität. Hilfigers Kollektion für Kinder wurde dort bereits 2016 vorgestellt, im Jahr darauf eine für Frauen und Männer. Nike begann 2012 mit der Entwicklung einer speziellen Sport- und Lifestyle-Sneakers-Kollektion, die seit 2015 unter dem Namen „FlyEase“ verkauft und seitdem jährlich um weitere Modelle erweitert wird.
Die Schuhe werden so designt, dass sie je nach Modell sogar ohne Zuhilfenahme der Hände an- und ausgezogen werden können. Teilweise lässt sich das Fersenstück dank eines versteckten Klettverschlusses herunterklappen, bei einem Modell fungiert eine speziell gummierte Wanne als integrierter Schuhlöffel. Reinschlüpfen ohne Bücken und nie wieder Schnürsenkel binden – über dieses Upgrade würden sich auch zahlreiche Menschen ohne Behinderung freuen. Senioren zum Beispiel oder trotzig-faule Teenager.
Dominik Peter ist glücklich über jedes Stück Normalität, das Behinderten angeboten wird: „Und sei es nur die Möglichkeit, überhaupt ein Hilfiger-Hemd tragen zu können.“ Die Funktionalität der „Adaptive“-Kollektion hat ihn überzeugt, auch wenn die Hosennaht der Chinos aus seiner Sicht nicht ideal verläuft: „Druckstellengefahr!“
„Generell ist es schon lustig“, sagt Peter. „Früher wurde man als Rolli-Fahrer komisch angeschaut, wenn man Jogginghose und Sneakers mit Klettverschluss getragen hat. Inzwischen gilt das sogar als ausgesprochen modisch.“